Kommentare zum Frauengesundheitsbericht Deutschlands Teil 1

Der erste Frauengesundheitsbericht Deutschlands wurde 2001 veröffentlicht. An diesem gab es massive Kritik aus der Frauengesundheitsbewegung. Das Nationale Netzwerk Frauen und Gesundheit veranstaltete am 29. und 30. September 2011 eine Tagung in Berlin zum 2. Frauengesundheitsbericht, in der dieser in seinen Wirkungen gewürdigt wurde, die Themen des Berichtes überprüft und neue Themen für die Zukunft identifiziert wurden. Beides kann hier nachgelesen werden.

Ende 2020 erschien der aktuelle Frauengesundheitsbericht

Am 9.12.2020 wurde der neue Frauengesundheitsbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) mit einer gemeinsamen Pressemitteilung vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und RKI publiziert. Der 400-seitige Bericht entstand im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE) und informiert umfassend zum Gesundheitszustand, Gesundheitsverhalten und zur Gesundheitsversorgung von Mädchen und Frauen aller Altersgruppen in Deutschland. Im Epidemiologischen Bulletin 8/2021 werden der Hintergrund des Berichtes und sein Aufbau beschrieben. Zwei große Themen – Gesundheitsverhalten und gesundheitliche Versorgung von Frauen – werden exemplarisch anhand wichtiger Ergebnisse vorgestellt. Eine kurze Zusammenfassung der Berichtsinhalte mit Schlussfolgerungen schließt sich an. Es ist hier https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/08/Art_03.html nachzulesen. Veröffentlicht wurde dieser am 25.2.2021.

Der Frauengesundheitsbericht ist für die Arbeit der Institutionen nicht unerheblich, da sich viele in Forschung und Handeln darauf beziehen. Heike Brunner und Sigrid Schellhaas haben zwei Bereiche des Frauengesundheitsberichtes auf Anfrage von Karin Bergdoll (Feminsitin, AKF, Bündnis für Sexualle Selbstbestimmung) gelesen und kommentiert. Auch das AKF (Arbeitskreis Frauengesundheit) hat Teile des Berichtes kommentiert und auf seiner Homepage veröffentlicht. Wir stellen hier nun den Kommentar von Sigrid Schellhaas zum Kapitel 3, Mädchengesundheit und anschließend den Kommentar von Heike Brunner zum Kapitel 10, Frauengesundheit im europäischen Vergleich vor.

Die einzelnen Kapitel des RKI können hier gedownloaded werden.

Kommentar Teil 1

Sigrid Schellhaas

Mädchengesundheit Kapitel 3

Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre sind das Fundament des Lebens für jeden Menschen. Resilienzen, die in dieser Zeit erworben werden, sind auch gesundheitliche Ressourcen.

Nach dem Frauengesundheitsbericht wächst die große Mehrheit der Kinder und Jugendlichen in Deutschland gesund auf. Kindheit und Jugend sind eine gesunde Lebensphase, so im Eingang des Berichtes. Chronische Krankheiten und Funktionseinschränkungen kommen im Kindes- und Jugendalter deutlich seltener vor als in späteren Jahren. Diese Aussage lässt alle chronischen Erkrankungen, wie ADS/ADHS, Asthma, Neurodermitis und Allergien in diesem Alter als unwichtig erscheinen. Dabei zählen Heuschnupfen, Asthma bronchiale und Neurodermitis zu den häufigsten gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Kindesalter.

Zum Vergleich: Tabelle 3.1.3.1.

Das sind Erkrankungen, die auf ein gestörtes, nicht ausgeglichen arbeitendes Immunsystem hinweisen. Warum traut sich hier niemand, dies so zu benennen und Fragen zu dieser Entwicklung zu stellen sowie die Forschung in diesem Bereich zu integrieren? Was hat sich im Gesundheitssystem verändert, seitdem diese Erkrankungen immer mehr werden?

Als Beispiel ist die Diagnose ADS/ADHS als eine chronische Erkrankung zu nennen, die in der Vielfältigkeit ihrer Bewertung, Forschung und Therapiemöglichkeiten ungenügend abgebildet ist. Das Wissen der Gendermedizin kann uns im Verhältnis der Betroffenheit von Mädchen und Jungen verstehen helfen, wie individuell mit z.B. Ernährungsumstellungen und Substitutionen mit Vitaminen und Mineralien und einer guten Ergotherapie begleitet werden kann.

Im Gesundheitsbericht wird die These aufgestellt, dass die Geschlechts-unterschiede in der Gesundheit, die ab der Pubertät zu beobachten sind, nur zu einem geringen Teil auf biologisch-genetische Unterschiede zurückzuführen sind. Bis zur Pubertät scheinen die Mädchen gesünder und medizinisch unauffälliger zu sein, was sich im Laufe der Pubertät verändert. Warum?

Vielleicht lohnt sich diesbezüglich die Betrachtung des Zeitpunktes, ab dem die Medikalisierung von Mädchen beginnt. Es ist davon auszugehen, dass Medikamente bei Mädchen viel früher eingesetzt werden als bei Jungen, z.B. hormonelle Substanzen (48 % der Mädchen ab 15 nehmen die Pille zum Verhüten und als Lifestyle), Schmerzmittel bei Menstruationsbeschwerden etc. Ist dies nicht ein Eingriff in den weiblichen Stoffwechsel und verändert er diesen nicht nachhaltig?

Weiterhin stellt sich die Frage, wie diese These bestehen bleiben kann, wenn doch der Hormonstatus eines Mädchens oder eines Jungen zum Eintritt der Pubertät verantwortlich dafür ist, dass der Stoffwechsel von Jungen und Mädchen weit auseinander driftet, wie die Gendermedizin uns zeigt.

Können wir hier von einem Systemversagen reden, da es offensichtlich an einer sowohl medizinisch als auch gesellschaftlich sensibleren Begleitung pubertierender Jungen und Mädchen fehlt?

Es fehlt außerdem der Blick auf die bedeutsame Rolle von mütterlichem Stress in der Schwangerschaft und auf traumatisierende Geburtserfahrungen, sowohl im Zusammenhang mit Stoffwechsel und Nervensystem der Kinder, als auch dem Bonding zwischen Eltern und Kind und der damit verbundenen körperlichen und sozialen Entwicklung des Kindes. Unterschiede in der Resilienz lassen sich auf gemachte prä- und postnatale Erfahrungen zurückführen. Außerdem ist für die Stärkung von Resilienz und Gesundheitsressourcen ausschlaggebend, wie viel Raum Kinder und Jugendliche in ihren Prozessen erhalten, um mit ihren Körpern und Seelen in diese Welt zu wachsen und sich dort kreativ zu verorten.

Auch Symptome wie vermehrte Kopf- und Bauchschmerzen, wie im RKI-Bericht analysiert, können nach neuesten Forschungen hier zusätzlich ursächlich sein. Wenn, wie in dem Bericht zu lesen, die Gehirnanatomie oder die soziale Umwelt allein für die gesundheitlichen Defizite verantwortlich gemacht werden, bleibt der Blickwinkel in einer Hierarchisierung der Probleme stecken und das neue Wissen z.B. aus der Epigenetik, der Psychologie und der medizinischen Wissenschaft wird gar nicht erst berücksichtigt. Im Bericht fehlt zudem die Betrachtung der Vielseitigkeit des Wechselspiels von Da-Sein, Sozialisation, erworbenen Ressourcen und der Entwicklung der Geschlechts-identität, aus der geschlechtsspezifische Verhaltensmuster entstehen, die von einer gegebenen Kultur dominiert werden.

Im Geschlechtsvergleich zeigt sich, dass Mädchen in allen getesteten Bereichen deutlich seltener Auffälligkeiten in den Schuleingangsuntersuchungen aufweisen als Jungen. Dies gilt z.B. für die Testbereiche Grobmotorik oder Visuomotorik. Dies hat Einfluss auf die Förderempfehlung für die Schule, die bei Mädchen seltener ausgesprochen werden. In dieser Hinsicht ist es erschreckend, dass Mädchen, obwohl sie höhere Schulabschlüsse als Jungen erreichen und in der Regel weniger auffällig sind, nach wie vor weiterhin in der Berufsausbildung zurückbleiben. Auch das Interesse an technischen Berufen ist unverändert geringer als bei Jungen.

Es ist bemerkenswert, dass dieser Bericht einen Wechsel sowohl in der körperlichen als auch in der seelischen Gesundheit von Jungen und Mädchen in der Pubertät aufzeigt. Mädchen geraten aus mehr Stabilität in eine Instabilität: Im Alter von 12 bis 14 Jahren zeigen 13,9 % der Mädchen und 19,5 % der Jungen psychische Auffälligkeiten, im Alter von 15 bis 17 Jahren 14,6 % der Mädchen und 12,2 % der Jungen. Depressionen z.B. treten bei Mädchen ab 14 Jahren deutlich häufiger auf als bei Jungen, ebenso Angstsymptome. Was ist die Ursache?

Stabilisiert sich das eigene Körperbild von jugendlichen Mädchen, welches als ungenügend wahrgenommen wird, mit dem Fokus auf das Körpergewicht in dieser Gesellschaft als messbarer Faktor von gesund oder krank? Wie können Mädchen hier zu einer ausgeglichenen Wahrnehmung ihres Selbstbildes kommen, unabhängig von Werbung und Social Media? Hier besteht großer Handlungsbedarf. Bodyshaming setzt in frühester Kindheit ein. Ein Annehmen der eigenen Körperlichkeit beginnt nicht erst in der Pubertät. Essstörungen scheinen hier die logische Folge und der Versuch eines selbstbestimmten Umgangs mit dem eigenen Sein. Der auffällige Anstieg von Essstörungen pubertierender Mädchen spiegelt sich hier nur teilweise wider.

Das Einsetzen der Menstruation in einem frühen Alter ist laut dem Bericht fortschreitend. Es wird aber nicht hinterfragt, ob die Belastung mit hormonähnlichen Substanzen (Endokrinen Disruptoren) ursächlich für diese Entwicklung ist.

Dennoch scheinen sexuelle Erfahrungen erst in einem späteren Alter gemacht zu werden, was bedeutet, dass früheres Eintreten der Menarche anscheinend dieses Alter herabsetzt, aber nicht wesentlich. Erschreckend ist sicherlich, dass die Gewalterfahrung junger Mädchen im Zusammenhang mit Sexualität eher zu- als abnimmt.

Fazit

Was können wir in all diesen Bereichen tun, unabhängig von Gesund- oder Krankheit, damit junge Mädchen mehr in ihrem Selbst, in ihrer Körperlichkeit, in ihrer Unabhängigkeit, in ihrer eigenen Sexualität und in ihrem psychischen Wohlbefinden unterstützt werden? Dieser Bericht lässt viele Fragen offen.

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