Anja Kraus
Ein Reisetagebuch: Für Homöopathen ohne Grenzen (HOG) unterwegs nach Bolivien
Anja Kraus, Heilpraktikerin, Pädagogin und Mitfrau in Verein und Verband LACHESIS, reiste Anfang 2023 erneut als HOG – Projektleiterin nach Bolivien. Es war ihr erster Besuch des Projektes nach Corona . Das HOG – Projekt besteht dort seit vierzehn Jahren und Anja begleitet dieses Projekt von Beginn an. HOG unterrichtet in verschiedenen Projekten weltweit, um die Gesundheitsversorgung durch Hilfe zur Selbsthilfe zu verbessern. Neben Wissensvermittlung war ein weiteres Anliegen, dafür zu sorgen, dass weiterhin Behandlungen möglich sein werden, denn die Praxisräume des Projektes sind anderweitig vermietet worden.
Wir freuen uns sehr, dass sie ihr zum Teil sehr persönliches Reisetagebuch mit uns teilt und uns neben einem Einblick in die wertvolle Arbeit von HOG auch an der aktuellen politischen Situation in Bolivien, auch bezüglich der Naturheilkunde teilhaben lässt. Spannend ist, dass insbesondere für die Frauennaturheilkunde dort sehr erfolgreich die Homöopathieausbildung angenommen wurde und nun ergänzend zum traditionellen Wissen angewandt wird. Am Ende des Berichtes findet Ihr Kontaktinfos und Spendenkonto des HOG.
Die Namen der Personen wurden auf Wunsch zum Teil geändert.
Januar 2023
Ich reise Mitte Januar aus Deutschland ab, nachdem Lützerath, das Widerstandsdorf im Braunkohlerevier Garzweiler geräumt wurde, trotz des Protestes vieler Menschen im ganzen Land. 250 Millionen Tonnen Braunkohle mitten in der lebensbedrohlichen Erderhitzung wurden noch freigegeben zur Energiegewinnung, „aber danach soll Schluss sein“, sagt die Politik. Die Räumung des Fechenheimer Waldes in Frankfurt ist parallel im Gange, das kleine Habitat der Fledermäuse und des Heldbockkäfers. Ich frage mich, wo fängt Heilung an? Wie heilen wir Menschen auf einem kranken Planeten, in einer kranken Gesellschaft …
Kaum bin ich weg, fällt endlich der langersehnte Schnee. Vor dem Abflug kommen die wunderschönen Bilder weißer Landschaften auf meinen Accounts an. Etwas wehmütig fliege ich los. Im Flieger fällt mir wieder auf, wie liebevoll und sich unterstützend die südamerikanischen Familien mit ihren Kindern umgehen. Auch die jungen Männer helfen selbstverständlich mit, die Kleinen zu versorgen, alles ohne ein unfreundliches Wort.
Südamerika ist auch altenfreundlicher, Rente ab 60 und ab 60 darf man auch in die Priority Reihen im Flugzeug. So habe ich eine entspannte Reise ab Santa Cruz. In meinem Koffer sind viele homöopathische Mittel und ich muss durch den Zoll. Die Dame am Zoll hört interessiert meinen Ausführungen über Homöopathie zu. Alles Zucker erläutere ich – durch Verreibung gefüllt mit dem „Ahaju“, dem Spirit der Substanzen, das verstehen hier alle und ich darf mit meinen hunderten von Flaschen aus den Spenden verschiedener Praxisauflösungen weiterziehen. Insgesamt durfte ich zwei mal 23kg Gepäck mitnehmen, das habe ich weidlich ausgenutzt.
19.1. Ankommen
In La Paz holt mich Roxana am Flughafen ab. Sie bleibt über eine Stunde mit mir im Hotel und wir unterhalten uns angeregt. Sie ist technische Chemie-Ingenieurin. Wir sprechen über Covid, über die Impfung, über den Konflikt mit der Praxis. Ihre Schwester ist Ärztin und hat sich anfangs über die Homöopathie lustig gemacht. Roxana hat in ihrer Familie aber so erfolgreiche Behandlungen gemacht, dass jetzt auch ihre Schwester an Homöopathie interessiert ist, erzählt sie mir. Nach einer Suppe in der Suppenküche nebenan erledigt sie ihre Stadtwege und ich lege mich etwas hin zum Akklimatisieren.
Schon abends bin ich mit Alfredo und Coco verabredet. Wir reden im Hotel über den Konflikt mit Jimmi (Name geändert), der unsere Gemeinschaftspraxis einfach anderweitig vermietet hat. Außerdem überlegen wir, dass es am besten ist, die Medikamente an die ehemaligen TeilnehmerInnen des Kurses, die noch praktizieren, gerecht zu verteilen. Dann können sie sich gegenseitig anrufen und fragen „hast du das und das Mittel“. Später stelle ich fest, dass alle Locations, die wir früher besuchten, geschlossen haben und letztendlich gehen wir dann gemeinsam zur Bar, in der Jimmi am Wochenende arbeitet. Wir sitzen dort zusammen als er nach seinem Fußballtraining vorbeikommt. Ich schüttele ihm freundlich die Hand, aber umarmen geht nach der Aktion mit der Auflösung der Gemeinschaftspraxis gar nicht. Er zeigt uns Fotos von seiner Informationsveranstaltung über Homöopathie im Fernsehen.
20.1.
Durch die Zeitumstellung erwache ich sehr früh. Ich fange an, die mitgebrachten Mittel, circa 200 Fläschchen, zu sortieren und das Wochenende durchzuplanen. Es ist etwas kalt im Zimmer. Vielleicht wechsele ich doch in das Hotel, das mir Roxana empfohlen hat, denn das hat Heizung. Bei der Kälte alles im Bett zu schreiben ist unbequem. Nach etwas Spigelia D4 hört der Druck hinter den Augen auf und ich kann mit unserem Bericht weitermachen. Olga lädt mich bei ihr zuhause zum Essen ein. Dabei stellt sich heraus, dass ihre Mutter blind ist und zudem die Schwester von Alfredo ist. Olga versorgt Sohn und Mutter. Die Mutter lebte und studierte, als Olga klein war, in Moskau und wurde damals bereits an den Augen operiert. Der Großvater war lang verfolgt und im Exil. Keine leichte Geschichte, die da auf Olga lastet.
21.1. Erster Unterrichtstag/ Gruppenbesprechung
Ich habe aus den Mittelspenden einige Tinkturen dabei (Calendula, Arnica, Aurasoma). Diesmal arbeite ich mit Belohnung: Wer pünktlich kommt, darf sich aus dem Geschenkepool etwas aussuchen. Sogar Alfredo ist pünktlich! Für Olgas Lebenssituation habe ich seit dem Privat-Besuch etwas mehr Verständnis. Sie kommt etwas später…
Anwesende sind Alfredo, Coco, Roxana, Olga, Denis und ich.
Wir haben mit so wenigen einen gemütlichen Kurs, machen mit Gefühle-Postkarten, die ich mitgebracht habe, eine Einstiegsrunde. Danach wiederholen wir Grundlagen der Homöopathie in Kurzform, ich stelle Fragen und sie müssen antworten. Wir arbeiten weiter anhand der Kursunterlagen von dem HOG-Projekt in Ecuador, die ich sehr gut aufgebaut finde. Im Erste-Hilfe-Kurs sind Hauptmittel aus verschiedenen Krankheitsbereichen aufgeführt. Graciela ist in einem Vipassana-Kurs und kommt erst beim nächsten Wochenende. Bei Alfredo und Roxana sitzen die Mittel. Für die anderen baue ich Eselsbrücken, wie sie sich die charakteristischen Symptome besser merken können und wir spielen Beschwerden, was viele Lacher auslöst.
Nach dem Unterricht machen wir ein Gruppengespräch. Da unsere deutschen Therapeutinnen nicht mehr viel Raum frei haben nach Bolivien zu fliegen, würde ich gern wie im HOG-Projekt in Afrika weitermachen, die Bolivianer*innen zu befähigen, selbst Kurse zu geben. Das wäre weniger CO2-Verbrauch und am besten lernt der Mensch, wenn er lehrt … .
Nach dem Unterricht machen wir eine erste Gruppenbesprechung.
Einig ist die Gruppe, dass die Projektbegleitung nicht aufhören soll. Die Strukturen stehen, unsere Partnerorganisation Enlace betreibt immer noch ein großes Büro, in dem sie uns Räumlichkeiten zur Verfügung stellen und Alfredo hat immer noch eine kleine Praxis um die Ecke der alten Gemeinschaftspraxis, wo die Mittel lagern können.
Olga hat einen langen Brief geschrieben über die Situation des Wegfalls der Praxis. Für sie war es eine große ökonomische Einbuße, die Praxis zu verlieren. Sie hat jetzt eine sehr viel teurere angemietet. Nach langen Beratungen beschließen wir, dass wir Jimmi keine Mittel aus der Mittelverteilung zukommen lassen. Er hatte sich, nachdem wir nicht mehr regelmäßig kamen, unter anderem geweigert, den Nutzer*innen der Praxis Belege für ihre Miete zu geben. Die Praxismiete war bezahlt und er hat sie, ohne den Nutzer*innen die Gelegenheit zu geben ihre persönlichen Dinge abzuholen, einfach ausgeräumt und an einen Anwalt vermietet. Alfredo kam mit einem Patienten zur Behandlung und die Praxis gab es nicht mehr.
Von Olga sind eine Tasche mit Stethoskop, verschiedenen Mittel wie kolloidales Silber, einem Blutzuckermessgerät und mit 500 Bolivianos einfach verschwunden. Sie wollte ja schon im Mai Unterstützung für eine Klage, aber das habe ich schon in der Telefonkonferenz damals entschieden abgelehnt. Zudem ist der Anwalt, der nun die Consulta gemietet hat, auch Jimmis Anwalt. Aber irgendeine Konsequenz sollte es schon geben für sein Verhalten, finden wir.
Wir sprechen auch über Covid. In El Alto sind sehr viele Menschen an Covid gestorben, viele alkoholsüchtige Menschen direkt ein bis zwei Tage nach Auftreten der ersten Symptome, auch viele ältere Menschen mit Diabetes. Dort gibt es nur eine geringe privatwirtschaftliche Gesundheitsversorgung, die Leute gehen in die Apotheke, schildern ihre Beschwerden und kaufen dann das preiswerteste Mittel.
Denis hatte eine Anzeige von einem Ehemann bekommen, dessen Frau sie mit Homöopathie geheilt hat. Denis arbeitet als Psychologin in eigener Praxis, denn sie hat ihr Studium erfolgreich abgeschlossen. Mit einer Gabe Ignatia hatten sich die hysterischen Anfälle der Frau gelegt und der Ehemann zeigte Denis an, ob sie überhaupt als Psychologin Arzneimittel verabreichen darf. Da die homöopathischen Mittel in Bolivien frei verkäuflich sind, ist es für sie gut ausgegangen. Der Mann hatte vermutet, sie habe Psychopharmaka verabreicht, weil die Frau sofort ruhiger war.
Zur aktuellen rechtlichen Situation
Politisch ist Bolivien etwas weiter weg von der indigenen Selbstbestimmung als unter Evo Morales. Die Frau, die nach dem Korruptionsvorwurf gegenüber dem Präsidenten Evo Morales Präsidentin wurde, hat sofort das Ministerium für traditionelle Medizin geschlossen. Für die Homöopathie gibt es elf Jahre nach Abschluss unserer Homöopathieausbildung immer noch keine Regelung, so wie es auch keine Regelung für andere komplementäre Heilmethoden gibt. Aber sie sind nach wie vor in Diskussion. Nur die Berechtigung als „Amauta“, also als Schamane zu arbeiten, ist unter der neuen Regierung geblieben. Alle „Amautas“ sind legalisiert und dürfen behandeln. Die Kammer der homöopathischen Ärzte versucht nach wie vor, die Homöopathie nur für Ärzte zu erstreiten, aber auch ohne Erfolg.
22.1.
Morgens holt mich Olga ab, um zusammen zum Unterricht zu fahren. Alle kommen wieder ziemlich pünktlich, was mich sehr freut. Wir arbeiten die Unterrichtsmaterialien für Tarija und St. Cruz durch, wobei wir wieder Arzneimittelbilder spielen. Alfredo bringt mit einem röchelnden Antimonium-tartaricum-Husten alle zum Lachen. Um die Ecke ist eine kleine Garküche, wo wir für wenig Geld ein gutes Essen bekommen. Mittags kommt Diana mit der Kamera und macht Gruppenfotos, damit es für die Website gute Bilder gibt. Diana hat auch gesundheitliche Probleme und wir machen eine gemeinsame Anamnese inklusive Mittelwahl.
Nach dem Kurs begleiten mich Denis und Olga, um für die Kurse kleine Hausapotheken abzufüllen aus den Mitteln, die ich besorgt habe. Wir sitzen eine Stunde gemütlich zusammen und füllen ab, zusammen macht es richtig Spaß. Heute ist Feiertag, Nationalfeiertag des plurinationalen Bolivien. Wir gehen noch zusammen an der Plaza die Bands anhören und sitzen zusammen.
Roxana hat in der Zwischenzeit die Reise nach Tarija zu Helia organisiert. Die Flüge sind alle ausverkauft, wir nehmen den Schlafbus, etwas teurer, etwas schneller und man kann etwas die Füße hochlegen. Zwölf Stunden Fahrt, dann ist eine Pause in Sucre geplant und dann wollen wir mit dem Taxi weiterfahren…Wird anstrengend aber wird schon gehen. Tarija soll eine schöne Stadt sein.
23.1.
Abends ruft Helia an: Warum wir über Sucre fahren, das sind 6 Stunden Umweg. Roxana wurde an der Bushaltestelle falsch informiert. Nun gibt es ein großes Organisations-telefonieren. Roxana muss zur Busstation, die Tickets stornieren und über Potosi umbuchen. Ich muss ja bis 11 Uhr das Hotel verlassen, Koffer packen und im Hotel aufbewahren.
Ein langer Wartetag ohne Termin. Jetzt merke ich, wie mir die Consulta (der Praxisraum) fehlt. Sonst hatte ich dort immer einen Ort an dem ich Mittel packen, aufräumen, schreiben konnte. Für die jetzige hat nur Alfredo einen Schlüssel. Ich beschließe zum Ausflugsziel „Val de la Luna“, etwa 15 km außerhalb, zu fahren. Olga ruft mich an und fragt, ob ich Gesellschaft brauche. Ich sage ja und treffe mich mit ihr und ihrem Sohn. Heute, am Montag, ist aber immer noch Nationalfeiertag, was ich nicht beachtet hatte. Als wir am Ausflugsort ankommen sind dort Schlangen von Autos, wir machen einen schönen zweistündigen Spaziergang. Beim Zurückfahren sind alle Minibusse, die vorbeikommen, bereits voll, denn auch Mallasa, das nächste Städtchen, ist ein beliebter Ausflugsort für die Städter. Ich muss mich in einen überfüllten Microbus quetschen, die beiden anderen nehmen einen Bus später, damit ich meinen Nachtbus bekomme. Im Hotel hole ich mein Reisegepäck und fahre mit dem Teleferico (Gondel) bei Sonnenuntergang über der Stadt zum Busbahnhof. Dort treffe ich mich mit Roxana, die mich zum Homöopathiekurs in Tarija begleiten wird.
Die Nachtbusse sind überraschend gut ausgestattet. Die Tickets sind etwas teurer als die normalen Busse, mich erwarten neue Volvobusse mit großen weichen Sesseln und Fußstützen. Trotzdem ist die Fahrt sehr anstrengend. Um 21 Uhr geht es los, um 12 Uhr am nächsten Morgen erreichen wir nach einer kleinen Pause in Potosi Tarija. In Tarija angekommen erwartet uns eine Hitzewelle. Normalerweise sollte es 20-25 Grad sein, es werden aber kurz nach 12 Uhr mittags schon 30 Grad. Später holt uns Helia nach einer Stunde Wartezeit in der Markthalle ab.
24.1. Unterricht in Tarija
Helia hat uns bei sich zuhause in San Jacinto, wo sie ein Haus an einem Ausflugsort gekauft hat, untergebracht. Wir bekommen das Doppelbett im Wohnzimmer, sie schläft nebenan, unten im Haus hat sie eine Familie mit drei Kindern zu Gast. Die Mutter der Familie ist Teilnehmerin am Kurs. Nach einem kurzen Spaziergang an den See und einem gemeinsamen Abendessen gehen wir nach der strapaziösen Fahrt früh schlafen.
25.1.
Nach dem Frühstück brechen wir früh auf zum Nachbarhaus einer Yogalehrerin. Auf dem Weg dorthin entdecke ich zwei Kröten, hier ein Fruchtbarkeitssymbol. In dem Haus erwartet uns ein wunderschöner Vorbau mit Blick auf den See, durch den bei der Hitze etwas Wind zieht. Sieben Teilnehmerinnen geben wir einen Kurs mit Einführung in die Homöopathie, Erste Hilfe bei Verletzungen und Erste Hilfe bei Durchfallerkrankungen.
Wir nehmen uns dabei viel Zeit und besprechen zwischendurch immer wieder Konzepte von Heilung. Helia möchte im Kulturzentrum auch ein Gesundheitszentrum aufbauen, die Teilnehmenden, meist Frauen, sind alle aus Tarija und Umgebung. Zum Essen haben alle etwas mitgebracht, es gibt sogar selbstgebackenes Vollkornbrot! Wir werden verwöhnt.
In der Nacht geht ein Gewitter runter, das nach der ungewöhnlich langen Trockenheit in der Regenzeit den Bewässerungssee wieder füllt. Trotzdem sind bereits 80 % der Kartoffelernte ausgefallen und die Kartoffelpreise haben sich vervierfacht.
Um 10 Uhr geht es im Kulturzentrum in Tarija weiter, gestern war der Yogaraum hier in der Stadt belegt. Hier macht mir die Hitze mehr zu schaffen. Diesmal zieht kein Lüftchen durch das warme Gebäude, bei 30 Grad schwellen mir die Hände an und die Konzentration sinkt.
Olga hatte mich gebeten, nach dem Unterricht in Tarija weiter nach St. Cruz zu kommen, sie hat dort eine gut funktionierende Gruppe von Heiler*innen, wo sie Mitglied ist und die sich freuen würden, Homöopathie zu lernen. Ich hatte überlegt, dorthin weiterzufliegen, aber auch hier gibt es wegen des Ferienendes keine Flüge.
Nachdem mir Olga in der Pause schreibt, dass die Rückflüge aus Santa Cruz nun auch doppelt so teuer sind und mich zweimal 16 Stunden Bus innerhalb von drei Tagen erwarten würden, sage ich den Unterricht im noch heißeren Santa Cruz ab. Olga ist zwar enttäuscht, aber wir hatten vorher vereinbart, dass, wenn ich keinen Flug finde, sie den Kurs dort abhalten wird. Wir hatten alle Themen, auf die sie sich vorbereiten muss, vorher besprochen und ich hatte sie abgefragt.
Wir besprechen in Tarija morgens die Hauptmittel für Mutter und Baby. Da wir eher ältere Frauen im Kurs haben, berichten einige von Beschwerden unter der Geburt ihrer Kinder oder anhaltenden Beschwerden nach der Geburt, vor allem nach Kaiserschnitt oder PDA.
Helia meint, diese Themen hätten wir in unserem dreijährigen Kurs nicht gehabt. Ich erinnere, dass Edith als Kinderkrankenschwester auf jeden Fall das Thema Kinderkrankheiten, Entwicklungsstörungen von Kindern und Erkrankungen von Babys unterrichtet hatte, denn ich erinnere mich an die Übersetzungen. Die Unterrichtsvorlagen der Kolleginnen aus Ecuador sind sehr praktisch für Länder, in denen man nicht an jeder Ecke klassische Homöopathie weiterlernen kann. Wenn mich in den Pausen Teilnehmende wegen ihrer Erkrankungen oder denen ihrer Familie um Rat fragen, setze ich mich mit ihnen zusammen und arbeite mit dem Boger Repertorium. Das ist für Reisen Gold wert und ich würde es gern noch in Spanisch für unsere Praktizierenden besorgen, denn es ist eine gute Alternative zum Kent, leichter zu lernen und zu bedienen, macht den PC entbehrlich und leitet schnell zu einem ersten gut wirkenden Polychrest.
Mittags behandeln wir das Thema Frauenkrankheiten mit dem Schwerpunkt Menstruation und Wechseljahre. Die Frauen bringen viele eigene Erfahrungen mit ihren Erkrankungen ein. Zwei der Frauen erzählen von den familiären Problemen, nachdem ihre – im bolivianischen Faschismus verfolgten Männer – wieder nach Hause kamen und ihre soziale Kompetenz durch Folter und daraus resultierende unkontrollierbare Aggressionen verloren hatten. Ich kann an den Beispielen posttraumatische Belastungsstörungen aufzeigen. Andere der Anwesenden waren als Kinder von den Wutausbrüchen ihrer gefolterten Väter und Großväter stark belastet. Es ist immer wieder erschütternd, wie sich die Gewalt der staatlichen Verfolgung in die Familien hineinarbeitet. Hier in Bolivien mit Indigenen oder anderen Menschen aus der Arbeiterbewegung zu arbeiten, bedeutet immer auch die Folgen von Gewalt während der Verfolgung für die Familien zu bearbeiten.
Abends bekomme ich die ersten positiven Feedbacks der Behandlungen (eine Dornbehandlung bei Schmerzen nach Geburt) gestern in der Mittagspause. Eine Frau segnet mich, denn sie hat nach zwölf Jahren, nach wiederkehrenden Schmerzen nach einer PDA, schmerzfrei geschlafen (Hyp.)
Die Abschlussprüfungen für unsere Schülerinnen in La Paz hatten wir 2012 durchgeführt, das war vor 11 Jahren. Erst jetzt erkenne ich den Luxus, den wir als lernende Homöopathinnen in Deutschland hatten. Überall in der Nähe gab es weiterführende Homöopathiekurse. Wir hatten zudem Supervisionsmöglichkeiten über die Berufsverbände und haben direkt nach der Ausbildung fünf Jahre lang einen fachlichen Austausch mit Homöopathinnen aus der Region selbst organisiert. Unsere Schüler*innen hatten nur uns und sich selbst als Weiterbildung. Ich werde anregen, regelmäßig Weiterbildung online auf Zoom anzubieten und sie zu einem Intervisionskurs zu motivieren, immerhin haben wir in und um La Paz nach 11 Jahren fünf praktizierende Homöopath*innen aus unserem Kurs, in Tarija und Corroico je Eine!
Nach dem Unterricht nehmen sich Roxana und ich ein Hostel in Tarija, doch weniger stressig als bei Helia zwischen Baustelle und Besuch.
Es heißt „Namaste“, die Besitzerin ist buddhistisch orientiert. Das Hostel ist sauber und liebevoll eingerichtet. Wir bekommen zu zweit ein Vierbettzimmer. Die Besitzerin hat das ganze Hostel mit selbstgemalten, dem Buddhismus angelehnten Bildern ausgestattet.
Abends hören wir chilenische Bands, die Lieder wie: “El pueblo unido”spielen – undenkbar auf einem Volksfest in Deutschland.
Dazu treffen wir uns mit Helia und Graciela und gehen noch die Parks besichtigen. Sie quellen über mit Familien, die die Abkühlung nutzen, um mit den Kindern auszugehen. Überall sind Spielmöglichkeiten, hier gibt es kleine Kinderrikschas zum Ausleihen, Rikschas voller Kinder düsen durch den Park an fußballspielenden Kleinkindern vorbei, in Deutschland wäre so ein Kinderrummel um 21 Uhr undenkbar. Wir gehen noch in eine Bar, in der die Besitzer*innen aus Flaschen, aus denen sie die Böden entfernt haben, wunderschöne Lampen gestaltet haben. Der Rest der Einrichtung besteht aus geschmirgelten Paletten mit selbstgenähten Kissen. Ich bin immer wieder überrascht, wie die bolivianischen jungen Menschen für ihre Bars ein zauberhaftes gemütliches Ambiente aus Wegwerfmaterialen gestalten.
27.1.
Heute sind wir mit Lea, unserer ehemaligen Übersetzerin und Tochter von Doris, die an unserer Ausbildung teilgenommen hatte, verabredet. Leider hat sie erst ab 15 Uhr Zeit. Roxana will noch den berühmten Portwein aus Tarija erstehen und wegen des Ferienendes müssen wir unser Busticket bereits vormittags kaufen. Leider ist die Busstation am entgegengesetzten Ende des Bauernmarktes, so verbringen wir den Vormittag im Mikrobus im Stau im Berufsverkehr, um von einem Ende von Tarija zum anderen zu gelangen. Der Bauernmarkt ist riesig und wir kämpfen uns durch Berge von Gemüse und Obst, Taschen, Schuhen und Essensständen, bis wir die Weinecke endlich finden und Roxana ihren Portwein für die Familie ersteht. Durch die Staus in der Stadt muss unser Ausflug zum Wasserfall ein wenig außerhalb, auf den ich mich sehr gefreut hatte, leider ausfallen. Nachmittags treffen wir uns mit Lea, und welch Überraschung, sie ist hochschwanger! Sie hat einen guten Gefährten gefunden, ruht in sich und hat strahlende Augen – so sollte es immer sein! Wir gehen gemeinsam Eiskaffee trinken und klönen über jetzt und früher. Sie holt uns später am Hostel ab und bringt uns samt Gepäck mit ihrem Auto zur Fernbusstation, an der sie selbst etwas zu erledigen hat. Unter Covid ist ihr Job im Tourismusbüro, von dem sie die Schnauze voll hatte, zusammengebrochen und sie hat einen Versand für bolivianische Spezialitäten aufgebaut und muss heute Champagner aus Tarija an Restaurants in La Paz schicken und da es keine Post gibt, geht das mit den Fernbussen – wie praktisch für uns. Sie erkundigt sich nach den anderen Homöopathielehrerinnen und lässt alle grüßen!
28.1. Zurück nach La Paz
Die 16 Stunden im Schlafbus sind zwar relativ bequem, trotzdem komme ich völlig erledigt in La Paz an. Schlechter Schlaf plus ständiger Klimazonenwechsel schlaucht dann doch. Ich fahre mit der Gondel zum Hotel. Dort bieten sie mir an, wenn ich reise, die Sachen im Zimmer zu lassen, da sie gerade wenige Gäste haben. Schade, dass sie das nicht vorher angeboten hatten, immerhin habe ich hier ein kleines Büro mit Unterrichtsmaterial, Büchern und Mitteln, das immer wieder im Koffer verstaut werden will. Zwei Stunden hatte ich gepackt, jetzt alles wieder auspacken. Nach dem Mittagessen mache ich eine Siesta und bin nicht einmal in der Lage Reisebericht zu schreiben. Um 16 Uhr ruft Coco an und lädt mich zur Wahl der „Cholita Travesti“ ein. Ok, jetzt muss der Reisebericht sein. Ich schreibe bis kurz vor sechs und finde nach einigem Suchen das Museum, an dem es stattfindet. Die erste Stunde vergeht mit warten auf den Bürgermeister von La Paz, der sich angekündigt hat. Die für den Event geladenen Transvestiten frieren in ihrer knappen Kleidung. Letztendlich sagt der Bürgermeister ab. Die Veranstaltung, begleitet von zahlreichen Fernsehsendern, ist unter dem Motto „Vereint in Diversität“ eine Wahl der schönsten Trans-Cholita mit Beteiligung der Stadtverwaltung und den LGTBQ*Sprecher*innen. Es gibt einen Laufsteg, auf dem die Trans-Cholitas ihre Trachten vorstellen und einen Vortrag warum die ehemalige Kleidung der Spanier trotzdem heute die Identität der bolivianischen indigenen Frau, der „Cholita“ ausmacht. Es folgen Vorträge von Sprecher*innen verschiedener Organisationen zu Antipatriarchat, Antikolonialismus und weitere Grußworte. Währenddessen ziehen sich alle Bewerber*innen um und führen in anderen traditionellen Trachten regionale Tänze auf und dürfen dann eine Ansage machen, welchen Tanz sie aus welchem Grund gewählt haben. Fast alle Tänzer*innen stellen die Identität mit ihrer Mutter oder die Identität mit der Rolle der Frau in den Vordergrund, alle Bewerber*innen werden mit Namen und Beruf vorgestellt und fast alle arbeiten in der Gastronomie und sind als Künstler*innen aktiv. Ihr könnt euch das so vorstellen, als wenn die Transmenschen aus Bayern einen Dirndl-Wettbewerb abhalten unter Schirmherrschaft vom (noch zu gründenden bayrischen) Diversitätsministerium!
29.1.
Ein regnerischer Tag in La Paz. Als ich anfangen will, meine von gestern verschobenen Telefongespräche und die Wochenplanung zu erledigen, stellt sich heraus, dass ein Netzausfall vorliegt. Also kann ich nur die mit Wifi erreichen. Wenigstens haben inzwischen fast alle mobile Daten, außer ich, ich habe sie aber im Hotel und in fast allen Cafes.
Fast alle erreiche ich, um den weiteren Unterricht/ Koordinationstreffen zu organisieren. Noch drücke ich mich vor der Buchführung, die ich langsam mal anfangen muss, sonst blicke ich im Quittungswust nicht mehr durch. Morgen plane ich einen Ausflug zur Isla del Sol.
30.1. Ausflug nach Tihuanaku
Graciela, die mich zur Isla begleiten wollte, rät ab. Sie hat Freunde dort und es gibt Dauerregen. Da mich der Höhenunterschied von Tarija nach La Paz immer noch schwächt, entscheide ich mich nach Tihuanaku, zum archäologischen Tempel, zu fahren. Das sind nur zwei Stunden Fahrt und es ist auf dem Land. Dort buche ich mich ins einzige offene Hotel ein, in dem außer mir nur eine bulgarische Meditationsgruppe logiert.
Doris und Sigrid haben mir einen Kontakt zu einer Frau hier in Tihuanaku geschickt, die sich für alternative Medizin interessiert und ein spirituelles Zentrum aufbaut. Als ich sie anrufe, holt sie mich gleich zu einem Spaziergang ab. Wir reden lange miteinander, sie kennt Alfredo und hatte mit ihm das 1., 2. und 3. Treffen der indigenen Großväter und Großmütter organisiert, zu dem wir – ich glaube 2009 – zu Projektbeginn im Hotel Torino eingeladen worden waren. So schließen sich die Kreise.
Wir sehen uns noch den Sternhimmel an, den ich bisher weder in Tarija noch in La Paz sehen konnte. Er ist südlich vom Äquator so anders, nur Orion erkenne ich wieder …
31.1.
Am nächsten Morgen zeigt sie mir ihr Haus, das sie in der Form des Andenkreuzes gebaut hat. Darin hat sie einen Kristalltempel eingerichtet und mehrere sehr schön gestaltete Brunnen gemauert. Seit 2000 baut sie mit Unterstützer*innen an dem Haus. Danach wandere ich drei Stunden durch die verschiedenen Tempelanlagen. Wahnsinn, was sie in den letzten 10 Jahren noch weiter ausgegraben haben. Wo vor 10 Jahren nur Steinplatten lagen, ist jetzt ein ganzer neuer Tempel in Ansätzen freigelegt worden. Eine Stunde bleibt mir für die Monolithen- und Keramikmuseen. Die ganze Zeit hängt eine dicke schwarze Wolke über mir und Donnergrollen begleitet mich. Just als ich zu Mittag die Tür vom Restaurant öffne, kommt ein Hagelgewitter runter, so laut auf dem Blechdach, dass ich mir die Ohren zuhalten muss. Nach zehn Minuten ist es vorbei und ich kann in Ruhe speisen. Gemütlich fahre ich mit dem Minibus zurück nach La Paz.
Abends treffe ich mich mit Graciela. Sie ist dabei, mit ihrem Vater am Haus in Miraflores einen Raum auszubauen, um eine eigene Praxis zu eröffnen. Sie hat mich gefragt, ob HOG die Einrichtung übernehmen könnte, da es die gemeinsame Praxis ja nicht mehr gibt. Ich habe geantwortet, dass ich das als schwierig ansehe, da sonst möglicherweise jede der sechs Praktizierenden das verlangt. Dann hat sie mich um Geld für Farben gebeten. Da es sich um zehn Euro handelt, habe ich geantwortet, dass ich ihr das von mir spende, da frage ich nicht extra HOG an. Im Gespräch hat sich auch herausgestellt, dass sie die Kopie der spanischen Homöopathie-Einführung damals an Consuelo aus Argentinien gegeben hat und von ihr nie zurück bekam. Alfredo hat nun in „seiner“ Privatpraxis alle Bücher, allerdings sind die meisten in deutsch und damit kann hier ja keine*r was anfangen, außer Doris. Aber Doris macht inzwischen meist ayurvedische Ernährungsberatung und Körperarbeit und arbeitet nur selten mit Homöopathie.
Ich werde morgen vorschlagen, einige Regeln zu installieren:
- Die Schüler machen alle zwei Monate Intervisionstreffen, bei denen alle Zugang zum PC und damit zum spanischen Repertorium haben. Alfredo gibt zwar ab, aber er ist oft auf Reisen und weder für Mittel noch für die Nutzung des PC erreichbar.
- Die doppelten Mittel werden auf alle verteilt.
- Die großen Flaschen werden als Möglichkeit, Glasröhrchen nachzufüllen, zur Stiftung Enlace gebracht. Dort haben alle Zugang zu den Arzneimitteln, denn es gibt Öffnungszeiten und Montag bis Freitag sind dort Angestellte, die die Tür öffnen.
- Ich werde zweimal im Jahr eine Zoomkonferenz mit kleinen Fortbildungen anbieten, wie z. B. Milchmittel, oder Differentialdiagnose Mineralien. Wir werden vorher auch kleine Referate zur Vorbereitung verteilen.
Da wohl das Prinzip der gegenseitigen Unterstützung als Grundprinzip von Heilungsethik noch nicht angekommen ist, will ich mit diesen Vorschlägen den Austausch der Kolleg*innen in Bolivien unterstützen.
Die ehemaligen Schüler*innen wünschen sich sehr, dass wir nach wie vor Besuche in Bolivien machen und unsere Unterstützung und Fortbildung anbieten. Ich finde das bei sechs Praktizierenden nach 11 Jahren nach der Abschlussprüfung einen angemessenen Wunsch.
Alfredo arbeitet in eigener Praxis, Graciela baut gerade eine auf, Coco und Olga haben ihre Behandlungsmöglichkeiten durch Wegfall der Gemeinschaftspraxis verloren. Coco behandelt jetzt bei der Stiftung Enlace und Olga hat noch eine Behandlungsmöglichkeit in einem Raum der Firma für Nahrungsergänzungsmittel, für die sie noch arbeitet. Roxana behandelt mit großem Erfolg ihre gesamte Familie. So erfolgreich, dass ihre Schwester, die Ärztin ist und die Homöopathie abgelehnt hat, inzwischen von der Heilmethode begeistert und überzeugt ist. Denis begleitet als Psychologin Klient*innen auch mit homöopathischen Mitteln und Helia behandelt im Kulturzentrum in Tarija und versucht dort ein alternatives Gesundheitszentrum aufzubauen.
Ich finde diese Anfänge, in Bolivien homöopathisch zu arbeiten, unterstützenswert. Wie das auf Dauer gut gelingen kann, sollten wir in der Boliviengruppe beraten. Ich habe z. B. vorgeschlagen, dass die bolivianischen Homöopath*innen alle Polychreste, die es in der Pharmacia Hahnemann in La Paz gibt, dort bestellen, um die Apotheke zu unterstützen. Leider gibt es so wenige Homöopath*innen in Bolivien, dass diese Apotheke heute hauptsächlich Nahrungsergänzungsmittel verkauft. Olga hatte für mich ein Angebot der erhältlichen homöopathischen Mittel besorgt, aber immerhin kann diese Apotheke homöopathische Mittel aus dem südamerikanischen Ausland bestellen.
Zur allgemeinen Situation in Bolivien
Es sind kaum noch Touristen hier, die amerikanischen und israelischen Touristen sind nach Einführung einer Visagebühr weggeblieben, in Peru sind bürgerkriegsähnliche Zustände. Die Grenzen sind dicht, die Argentinier sind verarmt, der Real ist so wenig wert, dass die Bolivianer billig nach Argentinien fahren, um dort Urlaub zu machen. Ich bin der einzige Gast in meinem Hotel und kann verreisen. Der Geldgegenwert vom Euro ist massiv gesunken. Früher war er 1:10, jetzt ist er 1:7, man beklagt sich, dass kaum noch deutsche Touristen kommen.
1.2. Besuch in Corroico
Da ich alle noch Praktizierenden sprechen möchte, fahre ich nach Corroico, ein kleines Städtchen in der Nähe von La Paz, auf 2000m Höhe und subtropisch. Dort lebt unsere Kursteilnehmerin Doris.
Doris ruft mich nochmal an, ob ich wirklich kommen will, es regnet dort seit drei Tagen ununterbrochen. Außerdem sei die Straße zu ihr im Bau. Sie frage aber unsere gemeinsame Bekannte Sigrid, ob ich oben im Sol y Luna schlafen kann. Ich überlege, schaue in den strömenden Regen von La Paz und denke, dass ich lieber den strömenden Regen mit Doris und Sigrid verbringe. Die Anfahrt ist mühsam. Die Straßen sind noch verstopft vom Jahresmarkt „Alasitas“. Bei diesem großen Markt werden in der ganzen Stadt Miniaturen von dem verkauft, was man sich wünscht. Kleine Villen mit Pool, Berge von Dollar- und Bolivianoscheinen, kleine Baumaterialen, alles für die „Mesa“ des „Ececo“, dem Hausbeschützer. Überall große Zelte mit Essensständen, mit Tischfussball für Kinder und Jugendliche. Die ganze Stadt ist ein einziger Rummel.
Nach 45 Minuten kommt der Minibus endlich an der Bushaltestelle an, es dauert nochmal, bis die Busse nach Corroico voll sind. Auf dem 5000m hohen Pass, den wir überqueren müssen, ist es weiß. Es hat geschneit und blendet. Trotzdem ist der Stausee für die Wasserversorgung von La Paz fast leer. Im Sommer hat es kaum geregnet, die Ernte ist ausgeblieben, für die ärmere Bevölkerung eine Katastrophe.
Als ich in Corroico ankomme, ist strahlender Sonnenschein. Sigrid, die inzwischen 81 Jahre alt ist und im letzten Jahr ihr Öko-Hostel an ihren langjährigen Mitarbeiter vermietet hat und in ihrem eigenen Haus als Alterssitz wohnt, lädt mich gleich an den Pool ein, um dort auf Doris zu warten. Wir schwimmen, sonnen uns und essen kleine kiwigrosse Mangos und warten auf Doris, die nach einer Weile dazu kommt. Ich werde als Gast bei Sigrid einquartiert, mit eigener Dusche und Toilette. Um das Haus ist weit und breit ein Blumenmeer, das Sigrid seit 40 Jahren pflegt. Am Abend gibt es ein vegetarisches Essen und eine Nacht voller Gespräche, so interessant, dass sie weitere Seiten füllen würden. Ich schlafe wie im Himmel. Nach dem Frühstück zeigt mir Sigrid ihr Haus und ihren Behandlungsraum, in dem sie 40 Jahre Shiatsu gab und den sie immer noch ohne Möbel mit einer leichten Auflage am Boden eingerichtet hat, um ihre Übungen zu machen.
Doris praktiziert inzwischen eher Ayurveda, das sie auch noch erlernte. Die Homöopathie fand sie in der Ausbildung sehr schwer und hat immer noch das Gefühl, es noch nicht gut genug zu können. Sie stellt mir einen Fall vor, in dem sie Secale verordnet hätte, nach Blutungen und Krämpfen nach Abort. Ich fand es eine gute Wahl, sie rief aber Alfredo an und der meinte, das Mittel sei ganz falsch gewählt und sie traute sich dann gar nicht, die Frau zu begleiten. Ich ermutige sie, ihre Mittelwahl ernst zu nehmen, denn anhand der verbleibenden Symptome kann man ja neu repertorisieren und die Mittelwahl verbessern. Da es sich auch in der Phythotherapie um ein bewährtes Mittel bei den genannten Unterleibsbeschwerden handelt, finde ich es eine gute Wahl. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass alte, in der Phythotherapie bewährte Mittel, auch als homöopathisches Mittel, eine äußerst gute Wirksamkeit entfalten und habe häufig meinen Unterricht anhand der phythotherapeutischen Indikationen vorbereitet.
Nach unserem Gespräch sagt mir Doris, dass sie nun mehr Sicherheit fühlt, selbst zu verordnen und die Homöopathie wieder mehr heranziehen wird.
Die Rückfahrt vergeht wie im Flug, ich laufe in die Stadt und finde nach der Umrundung einer Marienprozession gleich einen fast vollen Bus, der nach 10 Minuten abfährt. Um 16 Uhr habe ich einen Termin bei Enlace, wo wir einen Film über Pepe Mujica aus Uruguay schauen. Er realisierte Programme, um die Armut in Uruguay zu bekämpfen und um das gute Aufwachsen der Kinder zu ermöglichen. Seiner Meinung nach ist die Fürsorge für Kinder eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe zur Sicherung einer guten Zukunft. Er hat in seiner Amtszeit Wohnungsbauprogramme für alleinstehende Mütter realisiert und dafür 70% seines Gehaltes als Präsident gestiftet. In seiner Rede dazu sagt er: „Man sagt, gib den Armen einen Fisch, dann haben sie einen Tag zu essen. Lehre sie fischen, dann haben sie immer zu essen. Aber wie sollen sie fischen, wenn man ihnen vorher das Boot, die Angel und das Netz gestohlen hat?“ Nach dem Film sprechen wir noch eine Weile zusammen. Dann werde ich von Rita, der Hauptkoodinatorin von Enlace, mit ein paar Freundinnen zum Würfeln eingeladen.
3.2. Fortbildungssituation der Schüler*innen
Für die Vorbereitung der Schülerversammlung habe ich mir Notizen über alle Einzelgespräche gemacht. Zu Beginn stelle ich das Konzept der Therapiefreiheit und des gegenseitigen Respekts unter den arbeitenden Kolleg*innen vor, denn Olga wurde von Jimmi und Alfredo angegriffen, weil sie Nahrungsergänzungsmittel verkauft. Das geht nicht, wir müssen vertrauen, dass jede*r von uns ihr/sein Bestes gibt, um andere zu unterstützen. Zudem bringe ich ein, dass Selbstverwaltung zu erlernen ein mühsamer Prozess ist, den wir nirgends beigebracht bekommen und der meist mit großen Konflikten verbunden ist. Da es in Bolivien kaum Homöopathie-Fortbildungen gibt, sei es unbedingt notwendig, dass sie eine Intervisionsgruppe installieren, in denen sie ihre Anamnesen und ihre Mittelwahl vorbereiten und vorstellen. Dann geht es nicht darum zu sagen, du hast etwas falsch gemacht, sondern darum, eine zweite, dritte und vierte Sicht zu ermöglichen, was habe ich übersehen, welches Mittel könnte gut folgen. Dies alles muss mit hohem Respekt für die/den Einzelne/n, die/der ihre/seine Arbeit vorstellt, geschehen. Es geht auch nicht, dass welche zur Supervision kommen nach dem Motto „ich habe da einen Patienten und bitte sucht mir jetzt ein Mittel, das ich verordnen kann“, was doch einige Male vorkam.
Zudem biete ich an, ein bis zweimal pro Jahr eine Fortbildung per Zoom zu gestalten. Auch hier ziehe ich den Zahn des Frontalunterrichts, denn ich bin stark eingespannt. Ich werde Unterricht in Hinblick auf zu übende Selbstorganisation strukturieren. Zum Beispiel wenn wir Minerale bearbeiten, wird jede*r Teilnehmer*in die Aufgabe bekommen, ein Mineral-Mittel vorzubereiten und ich werde die Referate ergänzen. Ich möchte selbstorganisiertes Lernen langfristig installieren.
Alle sind einverstanden, dass wir es so machen können. Sie bitten darum, dass die anderen Therapeutinnen aus Deutschland teilnehmen. Das fände ich toll, allerdings müssen wir schauen, wie das zeitlich und sprachlich klappen kann. Alfredo bringt zum Schluss noch ein, dass es im Internet gratis Kurse zur Homöopathie gibt, man muss sich Zeit nehmen, um sie zu suchen und sich anzuschauen, er habe sich so weitergebildet.
Vorher war für mich ein nicht ganz einfacher Tag, denn ich musste die Mittel aus der Praxis von Alfredo holen und an die Schüler*innen verteilen. Um schnell zu entfachende Gerechtigkeits-Konflikte und Streitigkeiten zu vermeiden, kündige ich an, dass ich die Verteilung übernehme. Werden sich alle gerecht behandelt fühlen?
Alle DHU 10 g Fläschen sollen zu Enlace, denn dort ist ein Büro und immer jemand da, auch wenn Coco krank ist. Die Fläschchen sind so groß, dass sich alle ihre Glasröhrchen nachfüllen können. Wir sitzen mehrere Stunden, sortieren die Mittel nach Alphabet und machen auf dem PC eine Excel-Liste, die wir an alle Homöopath*innen versenden, damit sie wissen, ob das gesuchte Mittel bei Enlace vorhanden ist.
Alle doppelten Mittel, alles Polychreste meist in LM Potenzen von der Spagyrosspende, habe ich vormittags in der Praxis von Alfredo auf alle Praktizierenden verteilt. Bei Alfredo verbleiben die großen Stoffrollen, die auch seltene Mittel enthalten, sowie die Schachteln mit den seltenen Erden und den Ausleitungsmitteln in Niedrigpotenzen. Dort verbleibt auch ein Großteil der Bücher. Da allerdings Alfredo den PC mit dem spanischen Repertorium in Obhut hat, nehme ich die beiden Phatak Repertorien für Graciela und Olga mit, denn sie wollen homöopathisch arbeiten und der Phatak ist einfacher zu bedienen als die Kent Kopien. Auch je eine Materia Medica in spanisch finde ich beim Aufräumen in einer Kiste im Regal. Diese bekommen die beiden, die hauptsächlich die Homöopathie in eigener Praxis betreiben werden.
Da die meisten ihren „Mateu und Ratera“ (homöopathisches Erste-Hilfe-Buch von spanischen Ärzten, inklusive Asthmaanfällen, Schlangenbissen, anaphylaktischer Schock etc.) in spanisch verliehen und nicht wieder zurückbekommen haben, machen wir neue Kopien und verteilen sie auf die Schüler*innen, die ihre nicht mehr haben. Diese Kopien bilden eine gute Grundlage für das Erarbeiten von Homöopathie-Kursen.
Roxana führt über die Mittel und die Bücher Buch, so wissen wir immer wo die Originale sind. Wenn ich wieder Freunde finde, die auf ihren Reisen nach Bolivien etwas mitnehmen wollen, reicht es, Leerröhrchen mitzuschicken.
Nachmittags kommt Jimmi wie mit mir verabredet, mit den „Mateu“-Kopien und zur Aussprache in die Gruppe. Die Gruppe knistert vor Spannung, denn er hatte die langjährige Gemeinschaftspraxis an einen Anwalt vermietet, obwohl sie vom HOG-Projekt bezahlt war. Allerdings hat das erst im letzten Jahr geklappt, vorher die 10 Jahre musste er oft der Miete hinterherrennen und ich habe häufig bei meinen Reisen nach ungefähr zwei Jahren ein halbes Jahr Schulden bezahlt.
Daher weiß ich ja, dass es lange nicht geklappt hat, die Praxis von Bolivien aus zu finanzieren. Alfredo zahlt jetzt das gleiche Geld, was vorher die gesamte Gemeinschaftspraxis kostete, für einen kleineren Raum , will aber diesen Raum alleine nutzen. Für Olga bitter, sie hat eine professionelle Praxis in der etwas reicheren Innenstadt für den doppelten Preis gemietet und Graciela baut gerade mit ihrem Vater einen Raum zum Praktizieren aus, es ist ein Anbau an ihrem Wohnhaus, in dem sie auch unterrichten will.
Ausprache zu den Praxisräumen
Es folgt eine zweistündige Aussprache, bei der ich Gesprächsregeln aufstelle und sie hüte, um eine Eskalation zu vermeiden. Schwierig wird es in Situationen, in denen Jimmi offensichtlich lügt. Er behauptet, niemals jemanden in die Gemeinschaftspraxis gelassen zu haben, obwohl Olga und Alfedo dort seine Musikgruppe beim üben und seine Nichte beim Arbeiten angetroffen haben, als sie mit Patienten kamen. Das wäre ja auch nicht so tragisch, wenn nicht Sachen verschwunden wären in dieser Zeit. Die Aussprache endet damit, dass Jimmi sich entschuldigt, dass er die anderen nicht informiert hat und sagt, er habe ja angeboten, dass alle im Versammlungsraum der Kunsthandwerker weiterarbeiten können. Auch das hatte er aber niemandem mitgeteilt. Zum Schluss machen wir einen Kreis, geben uns die Hände und singen ein spanisches spirituelles Lied „Wir sind ein Kreis – ohne Anfang und ohne Ende“. Die Spannungen sind zwar nicht ganz aufgelöst, aber immerhin ist wieder eine Grundlage für Gespräche geschaffen.
Abends zeige ich noch einen Film mit spanischen Untertiteln, den ich mitgebracht habe, gegen Zwangssterilisation von armen und indigenen Frauen in Südamerika. Die deutsche Entwicklungshilfe hat sich daran beteiligt mit z. B. insgesamt 21 Millionen Euros für den rechten Präsidenten Fujimori in Peru, für die Sterilisation von 350 000 meist indigene Frauen aus Peru, ohne ihr Wissen. Dies wurde auch in vielen anderen südamerikanischen Ländern durchgeführt. Sie sind wegen Unterleibsbeschwerden ins Krankenhaus gekommen und kamen zwangssterilisiert zurück, vorwiegend arme, marginalisierte Frauen. Aber Homöopathieprojekte sponsert die deutsche Entwicklungshilfe nicht, himmelschreiend ungerecht. Auch in Bolivien wurden viele Frauen ohne ihr Wissen zwangssterilisiert.
Unsere ehemalige Übersetzerin, die Kinderärztin Inge, inzwischen Herzchirurgin für Kinder und stellvertretende Leiterin der Herz-OP Stiftung von Alexandra Freudenthal, ist zum Film gekommen. Der Film und die Aktionen der deutschen Frauen gegen die Beteiligung der Ärztekammer an Zwangssterilisationen findet großen Anklang. Nachher gehen wir noch mit Inge aus, allerdings komme ich nicht zum Gespräch mit Inge, da ganz Enlace mit in die Kneipe kommt. Inge wird uns deshalb morgen nochmal im Unterricht besuchen.
4.2.
Heute ist Jahrestag der Auslieferung von Klaus Barbie von Bolivien nach Frankreich, dem Folterer der deutschen Nazis, der nicht davor zurückschreckte, Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu foltern, um sie zum Reden zu bringen. Dieser hielt sich nach Ende des deutschen Faschismus in Corroico als Klaus Altmann versteckt und wurde seinerzeit von Brigitte Klarsfeld enttarnt. Er hat den bolivianischen Faschisten in ungebrochener Kontinuität als Ausbilder von Todesschwadronen gedient. Ein guter Grund, diesen unangenehmen Teil unserer Geschichte nicht zu vergessen und wachsam zu bleiben.
Morgens schaue ich nochmal die Bücher in der Consulta durch. Da wir doch mehrere spanische Materia Medica haben, zwacke ich „Taylor“ für Graciela ab. Roxana wird es heute nachmittag in ihren Unterlagen notieren.
Mittags geht es zu Enlace. Coco, Denis und Roxana kommen zum Arbeitstreffen. Wir werden weiter Mittel sortieren und im PC listen. Die anderen tauchen nicht auf. Da wir aber nochmal mit Inge verabredet sind, passt das ganz gut. Inge kommt gerade als wir fertig sind. Wir klönen eine gute Stunde mit Inge, die in der Corona Zeit ihr Herzzentrum für Kinder selbst finanzieren musste. Sie ist dort inzwischen stellvertretende Leiterin. Inge und Roxana kennen sich gut und freuen sich, da Inge Roxana eine OP an ihrem Herzen ermöglicht hatte. Das war etwas schwieriger als bei Kindern, da bei Roxana sich das Herz schon an die „Umleitung“ gewöhnt hatte. Bei der OP von Roxana musste ein kleines Loch gelassen werden und sie war sozusagen ein Präzedenzfall. Unsere gemeinsame Reise nach Tarija war die erste mit dem Bus nach 5 Jahren, Roxana musste lange sehr vorsichtig sein und durfte wegen der Erschütterungen bisher nur fliegen.
Danach bin ich bei Coco zum Essen eingeladen. Diana geht es gesundheitlich besser. Es gibt ein leckeres Essen mit genug Gemüse. Leider vertrage ich das Essen gar nicht, nachts im Hotel muss ich erbrechen und bekomme Durchfall. Homöopathisches Arsenicum album besänftigt meine Eingeweide, leider nur kurzfristig.
5.2. Kurz vor dem Rückflug ein Magen-Darm-Infekt
Ich bin sehr geschwächt, sage alle Termine für Sonntag ab und bleibe im Bett. Ich bin mit Graciela zu einer Schwitzhütte eingeladen, auf die ich mich sehr gefreut hatte. Nun kann ich leider nicht dort hin. Erbrechen ist vorbei, Durchfall mit starker Schwäche habe ich immer noch. Dazu kommen Schmerzen im Rücken vom langem Liegen. Olga kommt nachmittags und macht mit mir die Abrechnung ihrer Reise nach Santa Cruz, bei der sie Homöopathie unterrichtet hat. Wenigstens das habe ich heute erledigt, aber es strengt mich sehr an.
6.2.
Es geht mir etwas besser, aber auch die Einladung bei Alfredos Familie muss ich absagen. Graciela wird nochmal kommen und ich hoffe, dass ich bis zum Abend zum Schülerabschied, wieder fit bin. Alfredo holt mich ab und begleitet mich zum Hotel Torino. Ich schaffe es gut bis dorthin. Wir machen eine kleine Abschiedsfeier mit Leinsaattee und Pizza. Allerdings bin ich immer noch krank und kann daher nicht lang bleiben.
Da ich vor der Abreise krank bin, kann ich keine Abschiedsgeschenke verteilen und keine Geschenke für die Unterstützer*innen in Deutschland besorgen, aber die Reise war erfolgreich und hat uns alle wieder in Verbindung gebracht.
Mit einer Spende unterstützt Ihr uns, die Homöopathie hinaus in die Welt zu tragen und Menschen Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten. Auch Homöopathinnen mit mindestens fünf Jahren Praxiserfahrung werden für Einsätze im Ausland immer wieder gesucht.
Kontakt
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Anja Kraus
Anja Kraus war lange Mitredakteurin der Verbandszeitschrift LACHESIS, ist Mitfrau im Berufsverband LACHESIS und Heilpraktikerin.